Berichte von 11/2014

Samstag, 01.11.2014

#41 Was meine Lehrerin so erzählt hat

Zur Zeit haben wir hier frischen Reis, denn im Herbst wird der Reis geerntet. Der, den wir essen, ist sogar besonders, denn er wird von Verwandten von meinem Gastvater in Niigata, einer Präfektur im Nordwesten, angebaut und wir bekommen ihn in einem großen Sack zugeschickt. Er ist noch ungeschält (brauner Naturreis) und jeden Abend schälen Okaasan oder Otoosan ihn in einer Art elektrischen Schleuder.

Auf dem Heimweg vom Aikido

Meine Lehrerin spricht gerne Englisch (sie ist Englisch aufgewachsen), so dass sie eine der zwei Personen in der Schule ist, die immer noch mehr Englisch als Japanisch mit mir reden, obwohl sie mir am ersten Tag gesagt hat, sie würde nur dann Englisch benutzen, wenn ich es anders wirklich nicht verstehe. Und außerdem hat sie die Angewohnheit sowieso sehr sehr viel zu erzählen, auch völlig belanglose Dinge. So kommt es, dass sie mir zum Beispiel im Zug auf dem Rückweg vom Aikido, während sie mir ein Aikidovideo zeigt, erzählt wer die Leute sind (die ich angeblich alle kenne, aber ich kann mich nicht einmal mehr an die Gesichter erinnern), warum sie sie seit hundert Jahren kennt, was sie selbst damals machte, was die Leute machten, auf welche Uni sie gingen und warum und wo die Unis sind und was der Unterschied und die Besonderheiten der Unis sind und unter welchen Umständen und wann die Aikidoclubs an den Unis von wem gegründet wurden, wann und wo sie trainieren, früher und heute... Manchmal erzählt sie interessante Dinge. Aber oft ist es recht langweilig und vor allem hat es regelmäßig zur Folge, dass ich vergesse, was ich sie fragen wollte. Manchmal gibt es eben Dinge, über die ich gerne mit ihr reden will, aber in der Schule ist meistens nicht so viel Zeit, also kommt mir eine halbstündige Fahrt zum Aikido doch sehr gelegen. Nur wenn sie dann in einem fort über irgendwelche Unis am anderen Ende der Präfektur Kanagawa redet, vergesse ich es leider.

Regeln und deren Gründe

Manche Dinge sind aber wie gesagt interessant. Zum Beispiel wenn sie über Schule spricht. Sie kennt die westliche Art des Unterrichts, weil sie auf der internationalen Schule war und ihre Kinder auch dort sind. Was sie darüber denkt, weiß ich zwar nicht genau, aber sie sagte mir, sie würde ihren Schülern auf der japanischen Schule raten, wenn sie zum Beispiel entscheiden, welche Naturwissenschaft sie machen wollen und ob sie den naturwissenschaftlichen oder den geschichtlich-sprachlichen Teil machen wollen (hier ist das so aufgeteilt), dass sie das wählen sollen, was sie weniger interessiert. Denn sie meint, wenn einen Geschichte zum Beispiel wirklich interessiert, dann findet man den Unterricht einfach nur viel zu langweilig und man fängt an, über alles möglich nachzudenken (also das, was wir in Geschichte in Deutschland sollen) und dann fällt es einem schwerer, dass alles auswendig zu lernen. Übrigens meint Okaasan, dass es schon auch allen Japanern klar ist, dass ihr Englischunterricht Mist ist, aber sie lernen halt für die Uni-Aufnahmetests und solange sich die nicht ändern, ändert sich natürlich auch der Unterricht nicht. Allerdings sagte sie, dass die Tests sich schon ein bisschen verändert haben. Früher hätte man sie bestanden, wenn man nur Vokabeln und Grammatik gekonnt hätte. Heute muss man immerhin die Bedeutung der Sätze verstehen. Meine Lehrerin sagte mir außerdem, dass es in japanischen Schulen, genauso wie eigentlich in ganz Japan, ein großes Problem mit Selbsmördern gäbe. Sie sagte, in den Schulen läge das daran, dass die Leute gemobbt würden. Außerdem ist sie der Meinung, dass es so viele Selbstmörder gibt, weil Japaner nicht religiös sind. Nicht nur nicht christlich, sondern überhaupt nicht wirklich religiös. Deshalb würden sie sofort die Hoffnung verlieren und keinen anderen Weg sehen. Meine Lehrerin ist tatsächlich katholisch (es gibt auch buddhistische Lehrer oder Lehrer ohne Religion an der Schule). Sie versucht auch ab und zu, die Schuluniform mit der Bibel zu erklären. Ist ja nicht so, dass 99,9 Prozent (Schätzung von mir) der japanischen Mittel- und Oberschulen Schuluniformen haben. Auch die Regelung, dass wir keine Handys und mp3-Player und Kameras und so mit in die Schule nehmen dürfem, hat ihrer Meinung nach einen religiösen Hintergrund (Manga und Kartenspiele sind auch verboten). Außerdem sagte sie, wir sollten uns daran halten, denn sonst würden die Ausländer, von denen es in der Gegend der Schule ja eine Menge gibt, in der Schule anrufen, und fragen, ob das denn erlaubt sei. Denn Japaner würden dass nicht machen, aber Ausländer würden sich darüber wundern. Das mag stimmen, aber trotzdem fand ich es nicht toll, dass sie es sagte. Denn ich fand, dass man es gut so verstehen konnte, als habe ich irgendwas verpetzt, aber das habe ich nicht. Ich sehe sogar darüber hinweg, dass das Mädchen neben mir abwechselnd im Unterricht (!) Manga liest und auf dem Handy Musik hört. Außerdem glaube ich, dass die Ausländer vielleicht bei der Schule nachfragen, ob es okay ist, aber nur, weil sie so etwas offener sagen. Aber sie werden nicht schlecht über die Schule denken, weil irgendwelche Schüler Musik hören oder so, was eher die Japaner machen, aber halt im Stillen. Auf dem Schulweg werden wir ja auch immer so etwas von Lehrern überwacht, die am Wegrand stehen und uns sagen, dass wir nicht den ganzen Weg blockieren sollen. Je nach Lehrer variiert das dann, ob wir zu zweit nebeneinander laufen dürfen, oder auch nur einzeln. Das machen sie angeblich, weil sonst irgendwelche Opas in der Schule anrufen, und sich beschweren. Was dann ein Problem für die Schule ist. In der Hinsicht ist es hier wirklich sehr anders als in Deutschland. Der Ruf der Schule und so ist sehr wichtig.

In zwei Wochen fahre ich auf Klassenfahrt, und ich habe schon die Liste mit Sachen bekommen, die ich minehmen muss (und die mit Sachen, die ich nicht mitnehmen darf). Es ist alles vorgeschrieben, zum Beispiel müssen wir Nähzeug mitnehmen (falls ein Knopf abgeht oder so) und Schuhbürsten (wahrscheinlich um unserer Schuhe zu putzen. Wir müssen die ganze Zeit Schuluniform tragen und auch die Kleidung für Abends ist vorgeschrieben (Sportkleider). Das einzige, was wir frei entscheiden dürfen, sind unserer Schlafanzüge. Im März erklärte mir meine Lehrerin die Länge der Uniform und dass wir nur Schuhe mit niedrigen Absätzen tragen dürfen, übrigens damit, dass uns die Lehrer sonst auf der Klassenfahrt nicht wieder erkennen könnten, wenn die Röcke unterschiedlich lang wären. Das ist wirklich albern.

Eine Woche Ibaraki

Heute fahre ich nach Ibaraki (eine Präfektur nördlich von Tokyo), wo wir alle (fünf Austauschschüler) bis nächsten Sonntag in anderen Gastfamilien wohnen und eine Woche lang in andere Schule, gehen. Mir wurde gesagt, es sei eine gemischte Schule und ich freute mich, aber wie sich herausgestellt hat, ist es wieder eine Mädchenschule. Eigentlich ist Mädchenschule aber auch lustig. Eigentlich mögen alle Mädchen von Mädchenschulen Mädchenschulen. Es ist halt nur immer mit ein bisschen Neid auf die Schülerinnen von anderen Schulen verbunden. Und ich glaube, ich bin froh, nicht 12 Jahre lang auf einer Mädchenschule gewesen zu sein.

Pauline