Donnerstag, 23.10.2014

#40 Deutschland in 20 Minuten

Meine zwei Tage Schulfrei sind zwar eigentlich schon wieder vorbei, aber aufgrund einer erneuten Erkältung liege ich immer noch im Bett, schon seit gestern. Dabei hatte ich mich so auf gestern gefreut - alle aus meinem Jahrgang aus dem Teezeremonieclub gingen grillen. Naja, ich habe den ganzen Tag geschlafen, es war sehr vernünftig, nicht mitgegangen zu sein.

In letzter Zeit ging es mir ansonsten ziemlich gut. Seitdem die Tests vorbei waren, also ungefähr seit meinem Geburtstag, war ich recht fröhlich, ohne das wirklich was besonderes passiert wäre. Die Tests waren ja vorbei und so hatte ich Zeit um viel Manga zu lesen und zu den Kulturfests der Schulen der anderen zu gehen und relativ oft war auch nur vormittags Unterricht. Wobei, wenn ich genau darüber nachdenke, war die Woche nach meinem Geburtstag eigentlich auch recht stressig. Und zwar weil ich erfuhr, dass ich am Mittwoch den 1. 10. eine Präsentation über Deutschland vor meinem ganzen Jahrgang halten musste. Meine Lehrerin meinte, der Termin stehe seit März fest, aber aus irgendeinem Grund habe ich erst am Tag nach meinem Geburtstag, also eine Woche vorher, davon erfahren. Die Präsentation konnte bis zu eine halbe Schulstunde lang sein. Es hätte keinen Mensch gestört, wenn sie kürzer gewesen wäre. Es hätte auch keinen Mensch gestört, wenn ich irgendwelches oberflächliches Zeug erzählt hätte. Wenn ich abgelesen oder herumgestottert hätte. Mich halten ja sowieso schon alle für eine Art Gott. Aber das wollte ich nicht. Ich meine, ich bin jetzt schon seit sieben Monaten hier und mir wurden so viele Fragen über Deutschland gestellt. Ich habe mich ein halbes Jahr lang über das japanische Schulsystem aufgeregt, habe zehntausendmal gesagt, dass Deutsche nicht die ganze Zeit Bier trinken und Würstchen essen und Sachen gehört wie "wir Japaner und Deutsche gehören zusammen - wir haben zusammen verloren".

Ich hatte also das Gefühl, nur eine einzige Chance zu haben, um das japanische Bild von Deutschland wenigstens ein bisschen gerade zu rücken, die häufigsten Fragen einmal für alle zu beantworten und vielleicht, leicht versteckt, auch ein kleines bisschen Kritik zu üben. Und deshalb wollte ich es so gut wie möglich machen. Erstmal erschien es mir wie eine aussichtslose Sache. Ich hatte ja jeden Tag Unterricht und Club und Samstag Japanischkurs und Sonntag Wandern. Aber nachdem ich meine anfängliche Wut auf meine Lehrerin überwunden und zwei Tage lang nachgedacht hatte, began mir das Ganze richtig Spaß zu machen und langsam kam mir auch die Erkenntnis, dass es eher zu lang als zu kurz werden würde. Ich habe also den ganzen Samstag vor dem Computer verbracht, um eine Power Point Präsentation zu machen, habe meinen Text von meiner Japanischlehrerin und den VTs gegenlesen lassen und auch nach dem Wandern (vor sechs Uhr morgens aus dem Haus und um halb sechs Uhr abends wieder zuhause) noch geübt. Und ja, ich würde sagen, dass es gut wurde. Auch wenn ich leider zwei der wichtigsten Sätze vergessen habe. Aber immerhin habe ich über zwanzig Minuten frei gesprochen. An dem Mittwochabend kam im Fernsehen übrigens eine zweistündige Sendung über Deutschland, die jeder sah. Nur meine Gastfamilie, die immer, immer fernsehen, hatten davon irgendwie nichts gehört. Ich hätte sie so gerne gesehen! 

Der (grobe) Inhalt der Präsentation:

  • Lage, Nachbarländer, Landschaft (sehr oberflächlich)
  • Dass deutsche Geschichte mit der Geschichte anderer europäischer Länder zusammenhängt und sich deshalb Kultur und Sprachen ähneln. 
  • Dass man einfach in andere Länder reisen kann
  • Schule (Hitzefrei, keine Uniformen, keine Senpai-Kouhai-Beziehung, wie jap. Uni, Klassenzimmer)
  • Unterricht (mündliche Note, Englisch, Geschichte)
  • Viele Ausländer, auch Sportler und Politiker, die aus anderen Ländern stammen
  • deutsches Essen (nicht nur Bier und Würstchen)
  • Deutsche Flagge und dass die deutsche Nationalhymne nicht besonders oft gesungen wird

Dazu noch ein paar Anmerkungen: Bei den ersten drei Punkten muss man sich klar machen, dass Japan ein Inselstaat ist, dass es also keine Nachbarländer hat und sich die Form auch nie verändert hat. Und dass man nicht so leicht in andere Länder kommt, so dass viele meiner Freunde tatsächlich noch nie im Ausland waren. Ansonsten habe ich auch andere Dinge gesagt, von denen ich wusste, dass es alle überraschen würde, wie zum Beispiel Hitzefrei oder dass ich in Deutschland erst einmal einen Schüler gesehen habe, der im Unterricht geschlafen hat. Dann natürlich Englischunterricht und Geschichte. Japanischer Geschichtsunterricht regt mich einfach auf. Man muss sagen, dass die Schüler hier mehr über alte europäische Königshäuser wissen als ich. Aber es ist doch vollkommen sinnlso, all diese Namen herunterbeten zu können. Ich habe ihnen also gesagt, dass man in Deutschland in der Schule nicht so viel auswendiglernen muss, sondern dass man alte Texte liest und die vergleicht. Dass man sich selbst eine Meinung bilden muss und dass es wichtiger sei, zu verstehen, weshalb irgendwas passiert sei, als nur die Daten und Namen zu lernen. Es haben auch alle zugestimmt. Dann aus der gleichen Motivation auch noch das über Ausländer. Das gibt es hier nicht. Es gibt zwar relativ viele ausländische Baseballspieler, und auch Sumoringer, die in der japanischen Liga spielen, aber keine in der Nationalmannschaft. Und erst recht keine Politiker. Und dann noch das über die Nationalhymne. Sie wird in Deutschland wirklich nicht besonders oft benutzt, oder? Ich kenne jedenfalls eine Menge Menschen, die sich aus Prinzip weigern, sie mitzusingen. 

Nationalhymne

Aber was das angeht sind Deutsche wohl eh ziemlich alleine. Beim AFS-Sommercamp hörten wir jeden Morgen und Abend die japanische Nationalhymne während die japanische Flagge gehisst bzw. eingeholt wurde (nur damit das jetzt niemand falsch versteht, dass hatte nichts mit AFS zu tun und ich denke, AFS hätte darauf auch gerne verzichtet. Aber wir waren in einem großen Haus mit vielen anderen Gruppen zusammen und da gehörte es eben mit zum Programm, das für alle Gruppen Pflicht war). Das standen wir also auf einem großen Platz, mehr oder weniger ordentlich, sahen am ersten Abend sogar Fuji-san im Abendlicht, mussten unsere Hüte, sofern vorhanden, absetzten, und hörten diese Hymne. Ich weiß nicht, ob irgendwer weiß, wie die japanische Nationalhymne klingt. Sie ist sehr langsam und seeehr dramatisch. Ich kam mir jedes Mal wie in einem Kriegsfilm vor. Das war eine der Sachen, auf die ich gerne verzichtet hätte. Aber ich glaube, egal wie sehr sich unsere Meinungen in Hinsicht auf Englischunterricht oder die Beziehung zwischen Japan und China auch ähneln mögen, wie es mir während dieser morgendlicher und abendlicher Appele (?) ging, das können selbst die anderen Austauschschüler nicht verstehen. Denn egal in welchem Land, auf die Nationalhymne ist man glaube ich fast überall genauso stolz wie es auch die Japaner sind, und ist auch solche Appele gewohnt.

Trotzdem war es toll, mit den anderen Austauschschülern zu reden (womit ich jetzt wieder aufs Camp zurück komme, aber was soll's). Es ist wirklich irre. Egal mit wem ich rede, jeder, ob Thailänder, Brasilianer, Mexikaner, bemängelt die gleichen Dinge über den japanischen Englischunterricht: Es werden zu viele Vokabeln gelernt, zu schwere Grammatik behandelt, zu viel auf exaktes Übersetzen beharrt und zuwenig geübt. Mir ist klar, dass ihr inzwischen alle wisst, dass mir der Englischunterricht hier auf die Nerven geht, aber ich fand es trotzdem beeindruckend, dass wirklich alle von sich aus das gleiche sagen. Das gleiche gilt übrigens auch für Geschichte. Ich habe mich zum Beispiel mit einem Mädchen aus Brasilien unterhalten und sie hat die gleichen Sachen gesagt, die ich auch denke. Das war wirklich schön. 

Oktoberfest

Noch etwas ganz anderes zum Thema Deutschland: In Yokohama gibt es die Deutsche Schule Tokyo Yokohama. Beim Aikido anfang September lernte ich durch Zufall einen Lehrer der Schule kennen, der mir sagte, ich solle doch zum Oktoberfest kommen. Also war ich da vor zwei Wochen mit Shiori. Es war wirklich witzig. Erstmal fanden wir den Weg vom Bahnhof zur Schule, der relativ lang ist, mühelos aufgrund des Menschenstroms, der ihn entlangging. Ich hatte mit einem eher kleinen Fest gerechnet, schließlich ist das eine Schule, die mitsamt Kindergarten nur ein paar hundert Schüler hat. Aber so war es nicht. Es war wirklich groß. Ich glaube, die ganze deutsche Gemeinde aus dem Großraum Tokyo-Yokohama hatte sich dort versammelt (naja, vielleicht nicht ganz, aber es waren gedenfalls viele Leute da). Nicht nur Eltern sondern auch deutsche Firmen hatten Stände dort. Und da gab es dann also Würstchen und Fischbrötchen und Rote Grütze und Brezeln und Kaiserschmarrn und Schnitzelbrötchen und Rösti (Schweizer und Österreicher sind auch in der Schule) und Raclett und Gulasch und Leberkäs und Schupfnudeln mit Sauerkraut (was ich wirklich gerne essen wollte, aber es war so überfüllt, dass ich sie nicht fand) und Lebkuchenherzen und sehr viel Kuchen in einem Raum, vor dem die Schlange so lang war, dass wir uns nicht die Mühe machten, rein zu gehen. Und es gab sehr viel Bier und auch Wein. Für was mache ich mir hier eigentlich die Mühe mit meinen Präsentationen über Deutschland!? Und es gab einen Kunstrasenplatz und die Hälfte der Kinder trug Fußballtrikots. Manche der Klischees stimmen also wirklich. Außerdem trugen viele Leute Fischerhemden (yippie) oder Lederhosen und Dirndle (warum bitte hat die Hälfte der im Ausland arbeitenden Deutschen Dirndle!?). Und ich bestellte also auf Deutsch Essen und sprach leider danach mit Shiori Deutsch und wir saßen in der Sonne auf dem Kunstrasenplatz, Grundschüler mit Bällen wohin man blickte, andere versuchten mit viel zu leiser Stimme Haribo zu verkaufen, unter den Bäumen am Rand waren Slaglines gespannt, und aus den Lautsprechern hörte man den Gesang eines Schulchores. Es mag gemein sein, dachte ich mir, aber man hört schon einen Unterschied zwischen japanischen und deutschen Schulchören. Auch die anschließende Diskussion zwischen den Sängern auf der Bühne, die offenbar noch nicht entgültig geklärt hatten, wer was singt, würde man auf japanischen Schulfesten eher nicht finden. Aber es war lustig. Ein richtig schöner Tag. 

Oktoberfest

Pauline